Georges Tamer Die Frage nach dem Menschsein, die von Kant zur wichtigsten der vier Fragen deklariert worden war, wurde von Kierkegaard aufgegriffen. In seiner Auseinandersetzung mit dem spekulativen Denken Hegels hat der dänische Philosoph eine zutiefst religiöse, ja theologische Antwort darauf gegeben. Kierkegaard macht das Gelingen der eigenen Lebensführung von einem Begriff des Selbstseins abhängig, der ohne einen starken Gottesbezug nicht denkbar wäre. Der romantischen, sorglos-ironischen Lebenseinstellung des Ästhetikers stellt er die ethische Lebensbetrachtung gegenüber, die er durch das Bewußtsein von Individualität und Freiheit kennzeichnet. Die ihrer selbst bewußt gewordene Person wird zur selbstgewählten Aufgabe. Der Mensch ist verantwortlich gegenüber Gott. Bei der ernsten Anstrengung, moralische Ideen in die Praxis umzusetzen, besitzt - so Kierkegaard - das theoretische Wissen und Verstehen keine Macht über das Leben des Menschen. Indem sich die Person zu sich selbst verhält und indem sie sie selbst sein will, entdeckt sie, daß das Selbst wahrhaft nur im Angesicht Gottes existiert. Nur der Glaube rettet den Menschen aus der Verzweiflung, auf deren Grund das Selbst im Verhältnis des Menschen zu Gott entsteht. Der gewaltige wissenschaftliche Fortschritt, den die Menschheit im 20. Jahrhundert erreichte und der in den letzten Jahren eine zuvor nicht gekannte Steigerung aufweist, rückt die Grenzen des vom Menschen Gewußten und Erkennbaren immer weiter. Verbindet Kant seine Fragen mit der Aufforderung, der Philosoph müsse die Quellen des menschlichen Wissens, den Umfang des praktischen Nutzens der Wissenschaft und die Grenzen der Vernunft bestimmen können, so lassen die wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften im Zeitalter der Globalisierung und der Gentechnik eine solche Aufforderung als eitel und zum Teil absurd erscheinen. Nichtsdestotrotz wagt ein Künstler, Kants "einfache" philosophische Fragen zu Weltfragen zu erheben und zum Gegenstand einer europaweiten Ausstellung zu machen. Handelt es sich dabei nicht etwa um einen Anachronismus? Ich möchte im folgenden kurz versuchen, Kants Fragen im Hinblick auf die veränderte Wissenslage der Gegenwart neu zu lesen. Die Frage "Was kann ich wissen?" deutet auf die Quellen des menschlichen Wissens wie auch auf die Grenzen der Vernunft hin: "Was vermag ich mittels meiner Vernunft zu wissen?" Angesichts der Informationen, die aus übervollen Datennetzen über uns hereinströmen, erhält die Frage eine viel positivere, gehaltvollere Antwort als zu Kants Zeiten. Das menschliche Wissen nimmt nunmehr sowohl qualitativ als auch quantitativ zu. Der sich auf dem Siegesmarsch befindende Wissenschaftler könnte daher Kants Frage unter dem Einfluss eines Erkenntnis-Optimismus negativ-ironisch folgendermaßen formulieren: "Was kann ich noch nicht wissen?" Im selben Maße wie sich die Grenzen des Gewußten und Erkannten zurückgezogen haben, hat sich angesichts des vorherrschenden Liberalismus das Feld des moralisch Erlaubten ausgedehnt. Kants kategorischer Imperativ besitzt selbstverständlich wie zuvor noch Geltung und neokantianische Gerechtigkeitstheorien, die die Prinzipen der sozialen Gerechtigkeit von der diskursiven Zustimmung aller Beteiligten im Kontext abhängig machen, haben Hochkonjunktur. Dennoch läßt sich beobachten, daß die Grenzen des Nichtsollens besonders im Bereich des privaten Lebens eine deutliche Verschiebung erfahren haben: Vieles von dem, was im Entstehungskontext der Kantschen Fragen nicht erlaubt war, wird nun zugelassen. In einer Replik auf einen gegen die Umformulierung der Frage "Was soll ich tun?" in "Was muß ich tun?" gerichteten Einwand spricht Roland Kreuzer vom "Gesetz" in jedem einzelnen Menschen, das allein dem Menschen zuschreibt, wie er zu handeln hat. Wir wissen, daß dieses individuelle Gesetz durch die Übernahme kollektiver ethischer Normen entsteht und daß zugleich die Spannung zwischen diesen Normen und divergierenden individuellen Interessen das menschliche Handeln charakterisiert. Die aktuellen Debatten um die Abtreibung, das Klonen von Menschen und die Stammzellenforschung zeigen eindrucksvoll, daß das sogenannte innere moralische Gesetz kontextuell bedingten Veränderungen unterliegt, die sogar moralische Grundsätze in Frage stellen können, und daß sich die Kluft zwischen menschlichem Können und Dürfen erheblich ausgeweitet hat. (...) Kreuzers Kunstprojekt erhebt den Anspruch, im Wechselspiel von Text und Farbe ein zufälliges Publikum anzusprechen und auf wesentliche Themen aufmerksam zu machen. Seine Plakatkampagnen mögen dem Kunstkritiker fremd und fragwürdig erscheinen. Ein Künstler, der mit Mitteln der Werbung operiert, könnte wohl verdächtigt werden, keiner zu sein. Kreuzers Projekt könnte jedoch wenn ich mich Umberto Ecos Buchtitel bedienen darf als ein offenes Kunstwerk bezeichnet werden. Dieses wird dem Publikum sozusagen unabgeschlossen vorgestellt; das Publikum wird damit als Gestalter in die Kunstszene miteinbezogen. Der Interpret jeder Zuschauer ist ein potentieller Interpret - wird zu schöpferischer Teilnahme an der Produktion der im Zusammenspiel von Künstler und Rezipient prozessual hergestellten Kunst angeregt. Kunst beginnt damit im Künstler-Atelier und wird öffentlich durch hervorgerufene Akte bewußter Freiheit aller Beteiligter vollendet. Indem Roland Kreuzer die Aufmerksamkeit auf Kants Fragen lenkt und die Menschen zum Nachdenken darüber anregt, versetzt er die Rolle des mitgestaltenden Rezipienten der Kunst von der Beteiligung an der ästhetischen Produktion des Kunstwerkes in die persönliche Selbstbeurteilung des Menschseins. Das Bewußtsein des Kunstwerkes führt zum Bewußtwerden des Menschseins. Sokrates philosophierte mit den Menschen öffentlich, stellte grundlegende Fragen auf einfache Art und führte seine Dialogpartner vom banalen Fragen zum Bewußtsein ihrer Realität und zum Nachdenken über komplizierte philosophische Fragen. Roland Kreuzer ist in diesem Sinne ein sokratischer Künstler. Sein Projekt erinnert an Ciceros Worte über Sokrates: Dieser habe als erster die Philosophie vom Himmel herabgebracht und sie in jedes Haus hineingeführt. Die akademische Philosophie der Gegenwart hat es nötig, die vergessene sokratische Kunst des Philosophierens wieder zu erlernen.
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Über Kant und Kunst. Contributions to the weltfragen Symposion, edited by Roland Kreuzer, Berlin 2002, ISBN: 3-931012-15-8. With contributions of Sabine Collmer, Thomas Gil, Markus von Hagen, Roland Kreuzer, Ursula Panhans-Bühler, Ursula Rauch, Andrea Schwarzkopf, Barbara Straka, Georges Tamer. 48 pages, 42 photographs., 21 x 25 cm. |