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Doumit A. Salameh
Kants Fragen und der Mensch im 21. Jahrhundert
(Auszug)

 

(...)

Was soll ich tun?

"Was die Welt von uns erwarten sollte, ist, dass wir fortfahren laut zu protestieren, dass wir unsere Ablehnung unmissverständlich klarmachen, so dass kein einziger Mensch daran Zweifel zu hegen vermag, (...) dass wir es wagen, uns von einer kleinkarierten Politik zu befreien und jener blutigen Gestalt ins Gesicht zu schauen, die wir als die Geschichte unserer Zeit erkennen müssen." (nach Camus) (1)

Wenn wir uns anschauen, was wir getan haben und was wir heute noch tun, und uns dabei die Bestimmung des Menschen permanent vor Augen halten, so müssen wir unvermeidlich eine klare Vorstellung darüber entwickeln, was wir tun sollten. Es ist nicht zu übersehen, dass sich die Welt heute in zwei grundlegende und extreme Lager aufteilt: Auf der einen Seite stehen die Fundamentalisten, auf der anderen die Säkularisten. Die Fundamentalisten, unabhängig von ihrer jeweiligen religiösen Überzeugung, beanspruchen Gott für sich und wollen ihn, den Allmächtigen, zum einfachen Götzen ihrer Vorstellung machen; während die Säkularisten einen Tunnelblick entwickelt haben, der sich allen weiteren Argumenten verschließt. Dadurch wird der Begriff der Menschlichkeit ausgehöhlt und seiner wertvollsten und wesentlichsten Inhalte beraubt. Das sind die Folgen einer aufgeblasenen, oberflächlichen und blinden Eitelkeit, sowie eines Verständnisses von Unabhängigkeit, welches falsch und leer ist. "Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle", schreibt Einstein. "Das Geheimnisvolle ist die Quelle aller wahren Kunst und aller wahren Wissenschaft. Wer es nicht kennt, wer nicht mehr innehalten und staunen kann, der lebt nicht mehr, der existiert bloß."(2)

Während Fundamentalisten jeglicher Art den Gottesbegriff als Mittel benutzen, um andere zu diskriminieren, zu terrorisieren, zu verletzen oder gar zu töten, gehen die Säkularisten subtiler, doch nicht weniger vernichtend vor. Sie bejahen die Unabhängigkeit des Menschen bis hin zu einer Beziehungslosigkeit zu Gott und stellen eine göttliche Entsprechung des Menschen in Frage. Während die ersten den Körper angreifen, attackieren die Säkularisten die Seele. Dadurch, dass der Mensch für gewöhnlich als Komposit aus Körper und Seele begriffen wird, erweisen sich die Fundamentalisten und die Säkularisten als Verbündete, auch wenn sie, oberflächlich gesehen, stets als Erzfeinde auftreten. Ihre Taten dienen dazu, das Bild Gottes im Menschen zu zerstören, indem sie die heiligsten Werte abschaffen, nach welchen der Mensch lebt. Als Folge dieses Angriffes, schreibt Gabriel Marcel, "nimmt sich der Mensch zunehmend als eine bloße Zusammensetzung von bestimmten Funktionen wahr. (...) In einer solchen Welt erschöpft sich das ontologische Bedürfnis nach dem Sein proportional zum Zerfall der Persönlichkeit auf der einen und zum Triumph des reinen Säkularismus auf der anderen Seite. Dadurch stirbt langsam die Fähigkeit zum Staunen ab."(3) (...)

Wir wollen Menschen in Not helfen, aber nur solange, wie dies auch unserem eigenen Interesse dient. Dieses unüberlegte Verhalten ist nicht nur für einzelne Menschen typisch, sondern leider auch für ganze Nationen. Unsere Beziehungen sind nicht mehr zwischenmenschlich, sondern bauen sich zwischen verschiedenen Interessen auf. Gerade das, was unsere Beziehungen zueinander stärken soll, führt jetzt zur Entfremdung der Menschen voneinander sowie von sich selbst. Um es mit Kant zu sagen: Statt uns als Zwecke zu begreifen, haben wir uns zu Mitteln der Zwecke anderer reduziert, und dadurch erniedrigen wir sowohl uns selbst wie auch die anderen - alles um der Gier zu dienen, welche uns blendet und entmenschlicht. (...)

Auch wenn man eine Mutter Theresa, einen Johannes Paul II, einen Nelson Mandela und andere Lichtfiguren in der Geschichte der Menschheit nicht übersehen darf, gehört die Bühne immer noch den Kriminellen, den Massenmördern, die die Weltgesellschaft zwingen, sich ihnen zu fügen. Sie können sich uneingeschränkt aussuchen, wo und wen sie angreifen, und niemand ist vor ihnen sicher, weder reiche noch arme, weder starke noch schwache Länder. In einer Welt, in der Relativismus herrscht und das Fehlen von absoluten Werten für normal gehalten wird, werden auch Gesetze relativiert: Was in einer Gesellschaft als Schandtat gilt, wird in einer anderen zur Heldentat erklärt. Erkennen wir dies nicht als wahres Spiegelbild unserer Welt?

"Es gibt nicht zwei Menschenarten," schreibt Martin Buber, "doch es gibt zwei Pole in den Menschen. Es gibt keinen Menschen, der aus purer Vernunft, und auch keinen, der in reiner Selbstbezogenheit lebt. Keiner lebt immer in der Gegenwart und niemand lebt ständig in Tagträumen. Jeder lebt in einer Zwiefältigkeit. Doch einige Menschen leben stark eingebunden mit anderen Menschen, sodass man sie Sozialitäten nennen könnte, andere wiederum sind so selbstbezogen, dass man sie Individualitäten nennen könnte. Die Gegenwart findet zwischen diesen zwei Polen statt."(4) (...)



(1) nach Albert Camus, in: The World Treasury of Modern Religious Thought, Jaroslav Pelikan, Hrsg., London 1990, S. 31
(2) Albert Einstein, in: ebda. S. 204
(3) Gabriel Marcel, The Philosophy of Existentialism, New York 1971
(4) Martin Buber, in: The World Treasury of Modern Religious Thought, Jaroslav Pelikan, Hrsg., London 1990, S. 119

 
Doumit A. Salameh
Kants Fragen und der Mensch im 21. Jahrhundert
(Auszug)


© Salameh 2006


weltfragen im libanon

weltfragen im libanon
hg. von Andrea Schwarzkopf & Roland Kreuzer
Berlin 2006
Mit Beiträgen von Sélim Abou, Henry Cremona, Richard C. Dean, Roland Kreuzer, Fitnat Messaiké, Angelika Neuwirth, Doumit Salameh, Ridwan al-Sayyid, Andrea Schwarzkopf, Georges Zeynati.
Deutsch, englisch und arabisch, 80 Seiten, 50 Abb., 21 x 25 cm, Schutzgebühr & Versandkosten: 10 €

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