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Angelika Neuwirth
Vernunft und Verantwortung in der Gesellschaft

 

Im Namen des Vereins Kunst ist gut und der Heinrich-Böll-Stiftung Beirut heiße ich Sie alle zu unserem Symposium über "Kant klärt auf - Vernunft und Verantwortung in der Gesellschaft" willkommen. Ich danke Ihnen, dass Sie heute trotz des ungünstigen Termins im Fastenmonat Ramadan zu unserer Veranstaltung gekommen sind. Besonderer Dank gilt den Teilnehmern an diesem Symposium, die bereit waren, unser Thema weltfragen für den Libanon neu zu bedenken und sich den vier Kantschen Fragen zu stellen.

Anwesend auf unserem Panel sind heute eine Anzahl von Wissenschaftlern aus verschiedenen libanesischen Universitäten: Pater Sélim Abou, Professor und ehemaliger Rektor der Universität Saint-Joseph; Ridwan al-Sayyid, Professor an der Libanesischen Universität und Gründer und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift Ijtihad; Doumit Salameh, Professor an der Notre Dame Universität; Henry Cremona, Professor an der Universität Saint-Esprit de Kaslik; Fitnat Messaiké vom Islamischen Kulturzentrum in Beirut und Richard Dean, Professor an der Amerikanischen Universität in Beirut. Wir hätten uns gewünscht, heute auch Muhammad Hasan Al-Amin, Richter am Shari'a-Gerichtshof in Saida, bei uns zu haben, er musste sich aber zu unserem großen Bedauern aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen lassen. Unter uns ist der Künstler Roland Kreuzer, der sein Projekt weltfragen bereits seit 2001 in mehreren europäischen Staaten umgesetzt hat, und die Kunsthistorikerin Andrea Schwarzkopf, die zusammen mit dem Verein Kunst ist gut die Arbeit von Roland Kreuzer unterstützt, sowie Kirsten Maas, Leiterin des Beiruter Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, die maßgeblich an der Organisation des Projektes beteiligt ist. Die Moderation des Symposions liegt in den Händen von Georges Zeynati, emeritierter Professor für Philosophie an der Libanesischen Universität und ein Experte für die Philosophie Kants.

Unser Treffen hier ist nur ein Teil der umfangreicheren Veranstaltung, die der Verein Kunst ist gut in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung gegenwärtig in Beirut abhält. Denn unser Symposium läuft parallel mit einer großen Plakataktion des Künstlers Roland Kreuzer. Sicher haben sie die großen gelben Plakate gesehen, die an vielen Gebäuden und in den großen Universitäten im Beiruter Raum zu sehen sind und an zahlreichen Geschäften besonders in der Hamra aushängen. An Orten, wo man offizielle Ankündigungen, vor allem aber, wo man kommerzielle Reklamen für Konsumgüter erwartet, hat der Künstler Roland Kreuzer die zentralen Kantschen Fragen plakatiert: Was ist der Mensch? - Was kann ich wissen? - Was soll ich tun? und Was darf ich hoffen? Roland Kreuzer nutzt die kommerzielle Besetzung des öffentlichen Raumes, um den Betrachter mit Einladungen zur Reflektion, zum Neu-Durchdenken von zentralen philosophischen Fragen zu überraschen. Der beabsichtigte Täuschungseffekt wird dadurch gesteigert, dass die Plakte in ihrer äußeren Form und Größe den gewohnten Werbeplakaten entsprechen und so die Publicity von Werbung in Anspruch nehmen.

Die Zeitung An Nahar veröffentlichte am 4. Oktober einen ausführlichen Aufsatz von Michel Qabalan zu unserer Initiative. Erlauben sie mir, daraus einige wichtige Gedanken zu zitieren. Qabalan schreibt: "Roland Kreuzer hat die Kantschen Fragen in verschiedenen Größen in mehr als 40 europäischen und außereuropäischen Sprachen in verschiedenen Städten plakatiert. Der Passant wird mit gelben Plakaten mit schwarzer Schrift konfrontiert, die in zunächst unverständlicher Sprache, manchmal sogar in unbekannten Buchstaben oder fremden Alphabeten geschrieben sind. Nachdem der Passant die Plakate schließlich auch in der eigenen Sprache wahrgenommen hat, fragt er sich nach der Bedeutung dieser in seiner Stadt ausgestellten Werbungsträger. Darüberhinaus wird er sich nach dem Sinn jener Plakate fragen, die auf einen anderen als den eigenen Sprachraum verweisen. Die wiederholten Begegnungen mit den Kantschen Fragen führen ihn dazu, sich selbst den Kantschen Fragen zu stellen."

Warum Kant im Libanon? Die Beantwortung der Frage nach der Relevanz der Kantschen Fragen für den Libanon wird sich hoffentlich im Laufe unserer Veranstaltung ergeben. Was dieses Projekt aber nicht beabsichtigt, sollte gleich vorab geklärt werden: Dieses Symposium kann und soll kein Versuch sein, Ideen von Aufklärung aus dem Westen in den Orient zu exportieren. Die Zeiten sind vorbei, in denen es üblich war, die Leistung der Aufklärung exklusiv dem Westen zuzuschreiben und an der Möglichkeit der Realität einer Aufklärung in anderen Kulturen überhaupt zu zweifeln. Es ist zumindest nach den kulturellen Analysen von Edward Said nicht mehr möglich zu behaupten, dass der Islam und die Kultur des Nahen Ostens keine Aufklärung durchgemacht hätten noch auch imstande seien, eine solche zu entwickeln. Ein solcher Standpunkt, der einem essentialistischen Denken entspringt, liefert eine bequeme Grundlage für die Theorie vom Kampf der Kulturen.

Ich möchte dagegen mit Stolz erwähnen, dass insbesondere in der Orientalistik zur Zeit eine systematische Dekonstruktion des Stereotyps von der "im Nahen Osten nicht erfolgten Aufklärung" stattfindet. Die Realität einer Aufklärung ist nicht an besondere historische Epochen gebunden. Im Gegenteil: In unserer Zeit der Globalisierung sollten wir Aufklärung als einen generellen Rahmen für verschiedenartigste aufklärerische Traditionen verstehen, wie sie sich im Nahen Osten ebenso wie im Westen finden. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass der Vernunftdiskurs im Orient längst verbreitet war, bevor er in den Westen weiterwanderte. - Der zeitgenössische französische Philosoph Jean-François Lyotard bemerkt, dass Kants Name den Beginn und das Ende der Moderne markiert, er kann als besiegelndes Ende der Moderne gelten und kündigt insofern die Postmoderne an. Das bedeutet nicht, dass Kants Philosophie in der Postmoderne in die Realität umgesetzt werden wird, sondern vielmehr, dass es in der Natur dieser Philosophie liegt, eine Neubestimmung des traditionellen Begriffs vom historischen Fortschritt zu provozieren.

Wir erwarten die Vorträge unserer Referenten mit Spannung!

 
Angelika Neuwirth
Vernunft und Verantwortung in der Gesellschaft


© Neuwirth 2006


weltfragen im libanon

weltfragen im libanon
hg. von Andrea Schwarzkopf & Roland Kreuzer
Berlin 2006
Mit Beiträgen von Sélim Abou, Henry Cremona, Richard C. Dean, Roland Kreuzer, Fitnat Messaiké, Angelika Neuwirth, Doumit Salameh, Ridwan al-Sayyid, Andrea Schwarzkopf, Georges Zeynati.
Deutsch, englisch und arabisch, 80 Seiten, 50 Abb., 21 x 25 cm, Schutzgebühr & Versandkosten: 10 €

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