text Thomas Gil
Wissen, Moral, Rationalität.:
Versuch einer Antwort auf die Fragen Immanuel Kants
(excerpt)

 

Immanuel Kant faßt Philosophie als ein System von Erkenntnissen auf, präziser noch: als ein System von "Vernunfterkenntnissen aus Begriffen", wie es in seiner "Logik" heißt. Eine solche Auffassung oder Deutung der philosophischen Reflexion stellt den "Schulbegriff" der Philosophie dar, von dem Kant den "Weltbegriff" der Philosophie unterscheidet. In Beziehung auf den "Weltbegriff" ist die Philosophie durch Nützlichkeit gekennzeichnet und kann als "Lehre der Weisheit" dargestellt werden. Die Philosophie in "weltbürgerlicher Bedeutung", heißt es dann, läßt sich auf die Fragen bringen, die Roland Kreuzer zum Gegenstand seiner künstlerischen Aktion gemacht hat: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Sie finden jeweils eine Antwort in der Metaphysik, in der Moraltheorie, in der Religionsphilosophie und in der Anthropologie.

Im folgenden möchte ich in einem ersten Teil sehr schematisch auf die Antworten eingehen, die Immanuel Kant in seinem System der kritischen Philosophie auf die vier genannten Fragen erarbeitet hat. In einem zweiten Teil werde ich dann andeuten, wie man die Kantischen Fragen in andere Fragen transformieren kann, die sich mit den analytischen Mitteln der Gegenwartsphilosophie besser bearbeiten lassen. Dabei unterstelle ich, daß die Aufgabe der Philosophie darin besteht, präzise Fragen zu stellen, die man auch präzise beantworten kann. Dies heißt keineswegs, daß metaphysische Fragen, die sich nicht so schnell beantworten lassen, funktionslos, sinnlos oder unvernünftig wären. Im Gegenteil. Solche Fragen machen viel Sinn, denn sie sensibilisieren uns für das Unbestimmte und Unbestimmbare vieler unserer Lebenserfahrungen, die sehr komplex sind und sich nicht leicht unter allgemeine Begriffe subsumieren lassen. Ich habe aber im folgenden den anderen Weg gewählt, den Weg der analytischen Präzisierungsarbeit.

Kants Antworten

Kants erste Frage wird als Wissensfrage formuliert, das heißt: als epistemologische Frage in einem weiten Sinne. Im Kantischen philosophischen System wird sie aber als enge erkenntnistheoretische, gnoseologische Frage beantwortet: Wie ist Erkenntnis allein möglich? Die Antwort, die Kant auf diese Frage in seiner "Kritik der reinen Vernunft" gibt, ist wohl bekannt. Wir können nur erkennen, wenn zwei Vermögen, die wir als Erkennende haben, zusammenarbeiten bzw. zusammenspielen, nämlich das Anschauungsvermögen und der Verstand. Und wir erkennen faktisch, wenn beide Vermögen anhand der Mittel, die sie zur Verfügung haben (einerseits Raum und Zeit als apriori Anschauungsformen, andererseits die Kategorien oder Verstandesbegriffe), Synthesis- und Ordnungsleistungen vollziehen. So ordnet unser Anschauungsvermögen ein empfangenes chaotisches Empfindungsmaterial nach dem Prinzip des Nebeneinander und des Nacheinander. Unser Verstand ordnet dann weiter "kategorial" das durch das Anschauungsvermögen Geordnete oder Synthetisierte. Wo Anschauungsvermögen oder Sinnlichkeit und Verstand nicht zusammenspielen, gibt es keine Erkenntnis als subjektive Synthesis-Leistung, sondern bloße Spekulation. Kant weiß allerdings, daß einige Spekulationen sehr funktional und notwendig sein können.

Die zweite Frage ist eine moraltheoretische Frage. In seiner Ethik interessiert sich Kant primär für die Handlungsweise, für das Prinzip, nach dem man handelt, für die Leitregeln und Grundsätze, die unser Handeln anleiten, nicht für die einzelnen empirischen Handlungen mit ihren Phasen, Folgewirkungen und Folgen von Folgen, da der empirische Handlungsvollzug nicht immer von uns kontrollierbar ist. Von uns kontrollierbar ist allerdings, so die Unterstellung I. Kants, die Handlungsregel oder die Handlungsmaxime. Für diese können wir moralisch verantwortlich gemacht werden. Nur die Handlungsregeln, von denen wir wollen, daß alle Menschen nach ihnen handeln, sind für Kant die wahren moralischen Maximen und eignen sich deswegen, als praktische oder moralische "Gesetze" (das moralische Äquivalent der Naturgesetze I. Newtons) zu gelten. Kants Ethik ist demnach eine Prinzipienethik, eine (nicht-eudämonistische, nicht-utilitaristische, nicht-teleologische, sondern deontologische) Sollensethik, die sich exklusiv für die Qualität und Verallgemeinerbarkeit von Maximen und Handlungsprinzipien interessiert.

Was darf der Mensch hoffen? Kant beantwortet diese Frage, indem er davon ausgeht, daß die Menschen moralisch handelnd nur "glückswürdig" werden können und praktisch darauf angewiesen sind, daß es einen mächtigen Gott gibt, der real dafür sorgt, daß sie auch tatsächlich glücklich werden bzw. die Glückseligkeit erzielen. Gott erweist sich somit in der Kantischen Philosophie als eine Idee, die wir denken oder postulieren müssen, damit die guten, moralischen Menschen eine reale Chance haben, mit der Glückseligkeit faktisch belohnt werden zu können.

Die letzte Frage, die Frage nach dem Menschen, faßt die drei anderen Fragen zusammen. Kant faßt sie im einzelnen auf: als "physiologische" Frage nach dem, was der Mensch tatsächlich ist, und als "pragmatische" Frage nach dem, was der Mensch auf der Basis dessen, was er (organisch, biologisch, psychologisch) ist, tun kann, um aus sich ein besseres, klügeres und vernünftigeres Wesen zu machen, dessen Leben tatsächlich gelingen kann.

 
(...)
 

Menschliche Lebewesen, ließe sich nun zusammenfassend festhalten, sind in der Lage, vieles zu wissen, und zu wissen, was es heißt etwas zu wissen. Sie haben interne und externe Handlungsgründe, und wenn sie vernünftig sind, überlegen sie, was sie machen können, damit objektiv vernünftige, externe Handlungsgründe interne, sie faktisch motivierende Handlungsgründe werden. Sie handeln relativ rational und sind darauf angewiesen, ein wenig Glück zu haben, worauf sie ja immer hoffen. Schließlich verfügen sie über eine Reihe von Mechanismen und Strategien, die sie aktivieren können, wenn ihre eingeschränkte Rationalität zu versagen droht.

 
Thomas Gil
Wissen, Moral, Rationalität.:
Versuch einer Antwort auf die Fragen Immanuel Kants
(excerpt)


© Gil 2002


Über Kant und Kunst

Über Kant und Kunst.
Contributions to the weltfragen Symposion, edited by Roland Kreuzer, Berlin 2002, ISBN: 3-931012-15-8.
With contributions of Sabine Collmer, Thomas Gil, Markus von Hagen, Roland Kreuzer, Ursula Panhans-Bühler, Ursula Rauch, Andrea Schwarzkopf, Barbara Straka, Georges Tamer. 48 pages, 42 photographs., 21 x 25 cm.  

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