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Ridwan al-Sayyid
Kants Fragen und das arabische Denken heute
(Auszug)

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Das erste Mal, als ich mit den vier Fragen von Kant konfrontiert wurde, war in einem Seminar bei Hans Küng in der katholisch-theologischen Fakultät an der Universität Tübingen im Winter 1973. Hans Küng wurde später durch seinen Streit mit dem Papst und der katholischen Kirche hinsichtlich der Unfehlbarkeit des Papstes berühmt. Weder ich noch meine Kollegen wussten zum damaligen Zeitpunkt viel über die deutsche Philosophie, so dass wir dachten, dass Küng einen Disput mit dem älteren Professor, Ernst Bloch, dem Autor des Buchs Das Prinzip Hoffnung, hatte, Wir erkannten nicht, dass Küng eine Auseinandersetzung mit seinem anderen Kollegen an der Fakultät Karl Josef Ratzinger führte, der bereits theologischer Berater des zweiten vatikanischen Konzils war, später zum Kardinal geweiht und vor kurzer Zeit, wie wir alle wissen, zum Papst Benedikt XVI. ernannt wurde. (...) Uns fiel auf, dass Bloch und Küng heftig debattierten, während Ratzinger, der ebenfalls Professor an der katholisch-theologischen Fakultät war, die beiden ständig an die Frage nach dem Menschen erinnerte. (...) Nach Küng beurteilt Kant den Menschen hinsichtlich drei verschiedenen Kriterien: nach seinem Wissen, nach der Wirkung seiner Taten und nach der Hoffnung, die ein Mensch aufbringen kann. (...)

Ich übernahm 1978 die Redaktion einer Zeitschrift mit dem Namen al-fikr al-arabi (Das Arabische Denken), die sich der Behandlung von Spezialthemen widmete. Eins davon behandelte das Universitätsstudium in der heutigen Zeit, das ich 1981 vorbereitete. In diesem Zusammenhang korrespondierte ich mit dem bekannten ägyptischen Professor Dr. Hasan Hanafi, der ein Traktat über den Kampf der universitären Fakultäten verfasste. Dr. Hanafi fragte sich nach einer Zusammenfassung von Kants Aufsatz über den Menschen, warum in der Philosophie des klassischen Islams die Frage nach dem Menschen nicht gestellt wird. Ich bat ihn deshalb, im Rahmen eines Aufsatzes über die Geschichte der Philosophie der Frage nach dem Menschen nachzugehen. Dr. Hanafi schrieb daraufhin zwei Aufsätze: Gibt es eine Untersuchung über den Menschen in der islamischen Philosophie während der Zeit des Mittelalters? Und: Warum fehlte das Thema über den Menschen in den Schriften sowohl in der arabischen als auch in der islamischen Philosophie des Mittelalters? Der zweite Aufsatz machte den berühmten maghrebinischen Professor Abdullah Al Arwi auf unsere Zeitung aufmerksam und er versprach, einen Beitrag über das Thema zu schreiben. In diesem Aufsatz beschäftigte er sich mit der Geschichte der Philosophie. Kurz darauf antwortete auf Hanafis Aufsatz auch der im Jahr 2002 leider verstorbene amerikanische Orientalist libanesischer Herkunft, Dr. George Maqdisi in der Studie Religion, Gesetz und Studium im klassischen Islam.

Maqdisis Ausführungen zu diesem Thema sind bis heute einzigartig und herausragend. Er schreibt, dass es die Aufgabe einer Universität sei, den humanistischen Gedanken zu vermitteln und zur Aufklärung beizutragen. Diese Vorstellung von der Aufgabe einer Universität sei ursprünglich islamischen Ursprungs gewesen und erst später in den Westen gebracht worden. Maqdisi meint, dass das klassische Hochschulstudium, welches auf die drei Grundpfeiler Rhetorik, Logik und Theologie aufbaut, Instrumente bereithalte, um auf dem Gebiet des Humanismus und der Theologie vernünftige Überlegungen anzustellen. Die Muslime leisteten mittels der Rhetorik bereits damals einen Beitrag zum Humanismus, während sich die Europäische Philosophie des Mittelalters nur mit der Abschrift von theologischen Texten beschäftigte. Nach Maqdisis Auffassung sei das eine Erklärung auf die Frage, warum im Westen bis zur Zeit der Aufklärung nicht über den Menschen an sich nachgedacht worden sei. Maqdisi stellt weiterhin fest, dass dieses Thema bereits im Islam während des Mittelalters behandelt wurde und sich dort seit dem 9. Jahrhundert weiter entwickelte. George Maqdisi bemerkte ferner, dass der Koran einen Terminus für das menschliche Geschöpf fand, nämlich insan. In den indo-europäischen Sprachen wird das Wort insan mit den Begriffen Mensch, Mann, Mutter usw. mehr differenziert.

Ich fand die Kantsche Frage Was ist der Mensch? im islamischen Denken nur bei drei sufischen Mystikern. Bei Al Hallaj im 10. Jahrhundert, bei Ibn Al Arabi im 14. Jahrhundert und bei Ibn Sab'in ebenfalls 14. Jahrhundert. Ibn Sab'in beantwortete diese Frage nicht direkt, sondern beschäftigte sich mit den Fragen Friedrichs II., des Königs von Sizilien. Jedoch gaben alle drei sufischen Philosophen aus persönlicher Erfahrung eine Antwort. Für sie bedeutet Mensch einfach Freiheit. Mit Freiheit ist hier die Freiheit von den irdischen Dingen gemeint. Als Beispiel wird die Freiheit von der Frau, dem Kind, der Macht und schließlich die Freiheit vom Geld angeführt. Hier finden wir die vollständige demütige Verehrung gegenüber dem erhabenen Gott. Diese Erklärung kann eine Auslegung oder auch eine Abänderung der dualistischen Gegensätze von etwa freier Mensch und Sklave sein.

Der amerikanische Orientalist Franz Rosenthal kam in seinem Werk Das muslimische Konzept von Freiheit vor dem 19.Jahrhundert, das ich zusammen mit dem seligen Dr. Maan Ziyadeh im Jahre 1979 übersetzte, zu dem Ergebnis, dass die Muslime zur Zeit des Mittelalters bis in die Zeit von Tahtawi im Jahre 1831 nur zwei Bedeutungen für den Terminus Freiheit kannten: Zum einen freier Mensch im Vergleich zum Sklaven und zum anderen freie menschliche Handlung gegenüber dem Schicksal, also Freiheit gegenüber der Allmacht des erhabenen Gottes. Ich bin kein Freund dieser Erklärung Dr. Rosenthals, weil er sich auf Pluralitäten mittelalterlicher Begriffe stützt, wie zum Beispiel Mensch, Freiheit, Sklaverei und menschliches Tun, und nicht unterscheidet zwischen scholastischer Theologie, der Adab-Literatur und dem islamischen Gesetz. Meiner Meinung nach können für eine Fragestellung wie Was ist der Mensch, sein Wesen und seine Freiheit? nicht theologisch und literarisch tradierte Begriffe angewendet werden; mir scheint es vielmehr jetzt geboten, diese Thematik mit Hilfe der Werke unserer Philosophen und auf Grundlage der islamischen Gesetzgebung zu behandeln.

Kurioserweise gibt es ein Buch von Al Muhasibi aus dem 9. Jahrhundert mit dem Titel Das Wesen der Vernunft und deren wahre Bedeutung. Obwohl Al Muhasibi zum Sufismus neigt, benutzt er keine sufischen Termini. Er schreibt, die Vernunft unterscheide den Menschen von allen Kreaturen, fragt, was die Vernunft sei, und gibt gleich die Antwort darauf: Die Vernunft (alaql) sei eine Erleuchtung oder eine allgemeine Gabe des Menschen. Im Grunde seien alle Menschen gleich, sie unterscheiden sich jedoch durch Wissen und Verstand.

Diese Einsicht bildete sich im Laufe der Zeit bei den Theologen heraus und erfuhr eine stürmische Entwicklung in den wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit den Grundlagen der Methodenlehre der islamischen Rechtswissenschaft beschäftigten. Dabei gab es unterschiedliche Ansichten über die Vernunft und deren Bedeutung. Zum einen wurde die Ansicht vertreten, Vernunft sei angeboren oder beinhalte vielmehr intuitives Vermögen, zum anderen war man der Ansicht, Vernunft werde durch Erziehung vermittelt, oder auch, die Umgebung spiele eine gro§e Rolle, in der ein Kind aufwächst. Nach dieser zweiten Definition wäre die Vernunft als erlernte Fähigkeit die erste Stütze für die Menschlichkeit im Menschen. Sie wäre in diesem Zusammenhang aber nicht vom Intellekt abhängig, sondern als das zu interpretieren, was Kant praktische Vernunft nannte.
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Ridwan al-Sayyid
Kants Fragen und das arabische Denken heute
(Auszug)


© Ridwan 2006


weltfragen im libanon

weltfragen im libanon
hg. von Andrea Schwarzkopf & Roland Kreuzer
Berlin 2006
Mit Beiträgen von Sélim Abou, Henry Cremona, Richard C. Dean, Roland Kreuzer, Fitnat Messaiké, Angelika Neuwirth, Doumit Salameh, Ridwan al-Sayyid, Andrea Schwarzkopf, Georges Zeynati.
Deutsch, englisch und arabisch, 80 Seiten, 50 Abb., 21 x 25 cm, Schutzgebühr & Versandkosten: 10 €

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