text Roland Kreuzer
Gelbe Plakate: Ab wann steht eines fürs Ganze?
 

Wir haben in den letzten Monaten etwa 20.000mal eine der weltfragen gestellt, auf Karten und Kärtchen, gestempelt, gedruckt, geklebt, per Post verschickt, auf großen Plakaten, auf kleinen, auf Transparenten. Sie sehen hier 4 Fragen in 44 Sprachen, 176 weltfragen-Versionen Schwarz auf Gelb.

Wir mussten viel mit Quantitäten arbeiten und uns mit der Beantwortung von Fragen beschäftigen, die ganz und gar nicht philosophischer Natur sind. Welches Design, welche Schrifttype, warum Gelb? Wie sind die Bildträger herzustellen, wie anzubringen, wie wahrzunehmen? Welches Material, welcher Kleber, welche Zeitdauer? Wie kriegt man die Plakate auf die Straße? Wie steht es um behördliche Genehmigungen, um Witterungseinflüsse, Beschädigungen? Welcher Verbreitungsmodus ist machbar? Braucht es 100 Plakate, 1000 Plakate, eine Million Plakate?

Ein kleines Rechenexempel: Mal angenommen, jedes der 500 Plakate und Transparente, die im Schnitt 14 Tage hingen, wäre von 100 Passanten pro Tag wahrgenommen worden, so wären theoretisch 600.000 Menschen auf eine der Fragen gestoßen. Verglichen mit den Einwohnerzahlen der sechs Orte, an denen Aktionen stattfanden, hätten immerhin 50% der Einwohner eines der gelben Plakate in irgendeiner Weise wahrgenommen. Ein seriöser Statistiker müsste die Zahl natürlich drastisch herunterrechnen: 80 von 100 Passanten gingen vorbei und dächten nicht weiter darüber nach, 15 von 20 verstünden die Sprache nicht und gingen ebenso weiter, 4 von 5 verstünden die Sprache, nicht aber, worum es dabei gehen soll, und gingen kopfschüttelnd weiter. So bliebe vielleicht einer von Hundert übrig, der in irgendeiner Weise über den Inhalt der Frage nachdächte. Bei dieser Kosten-Nutzen-Rechnung würde jede Agentur von einer derartigen Plakatkampagne abraten.

Nun, als Künstler rechne ich anders. Ich rechne auf die Symbolkraft eines Bildes. Mir geht es darum, ein Bild der Fragen herzustellen, ein räumliches, temporäres, alltägliches, vervielfachtes, schwarz-auf-gelbes Bild. Angesichts eines einzelnen Plakates soll der Betrachter, so mein Ziel, dieses Bild im Geiste immer vervollständigen können: Jetzt, zu dieser Stunde, lesen andere an anderen Orten eine dieser Fragen. Dies stand für mich im Vordergrund der Überlegungen: Ab wann ist das Allgemeine so präsent wie das einzelne Plakat? Ab wann steht eines fürs Ganze?

Als idealer Bildbetrachter schwebte mir immer eine Person vor, die auf ihrem Weg in der Stadt nacheinander zwei oder drei Plakate wahrnehmen wird, und mit etwas Glück eine der Fragen lesen und verstehen kann. Diese Person, so meine Vorstellung, käme ins Nachdenken: Wer fragt? Wen fragt man? Mich? Ich mich? Ein Anderer sich? Wieviel wird gefragt? Und wo? In Europa? Auf der ganzen Welt? Und der Betrachter käme, so wünsche ich mir das, ins Nachdenken über die Gesellschaft, den öffentlichen Raum, die Straße, die Reklame, die Kunst, die Philosophie, den Menschen, die Welt, sich selbst.

In diesem Projekt sah ich seit vielen Jahren die Chance, durch ein einfaches visuelles Bild im Betrachter eine Nachdenklichkeit auszulösen, die über das reine Werk weit hinausgehen kann und soll. Das Plakat fordert den, der es in dieser Form im öffentlichen Bild der Stadt annehmen kann, zum Nachdenken über die Welt auf, mehr noch: zum Nachdenken über sich selbst in der Welt. Die vier Fragen von Kant sind einfach und kompliziert zugleich; sie haben die Fähigkeit, den Lesenden zu ermutigen - in seinen eigenen Fähigkeiten, Handlungsspielräumen und Hoffnungen - und sie können ihn im selben Atemzug auf sein eigentliches Kleinsein in der Welt zurückwerfen. Diese kühle, schneidende, fast sachliche Erkenntnis meines eigenen kleinen Maßes läßt sich für mich am besten widerspiegeln in der Vielzahl der fremden Sprachen, die uns alleine in Europa umgeben, und von denen ich, wie die meisten von uns, nur sehr wenige verstehen oder sprechen kann.

Bei der Aktion in Wolfratshausen im Oktober wurde sehr viel über den sprachlichen Bedeutungsunterschied zwischen muß ich und soll ich diskutiert. Bei Kant steht "was soll ich tun?" - ich verwende seit Jahren die Version "was muß ich tun?"- ich hatte die Kantsche Ethik immer als sehr streng empfunden und bewundert. Die Unerbittlichkeit, bei allen Fragen des richtigen Handelns nur auf mich selbst - auf das "Gesetz in mir" - verwiesen zu werden, führte mich wohl unbewußt zur besagten Formulierung "was muß ich tun?". Die Diskussionen, die ich mit vielen Leuten und Sprachkundigen darüber führte, waren sehr erhellend für mein Verständnis der eigenen und der fremden Sprachen und Denkweisen: es ist mir klarer geworden, daß die Sprachen der Menschen eigentlich nicht kompatibel sind, daß wir im wissenschaftlichen Sinne vor der Mauer der Unübersetzbarkeit des Kantschen Denkens stehen. Für uns Deutsche, für Kant und für viele andere Nationalitäten gibt es einen klaren Unterschied zwischen müssen und sollen, ebenso zwischen können und dürfen, für die Franzosen, Italiener, Spanier und Portugiesen nicht oder kaum.

Rolf Eichhorn spricht von einer künstlerischen "Geste", die mit den Plakaten gegeben ist, "nicht ausschließlich ein Inhalt". Diese Geste beinhalte zugleich, daß wir uns in unseren tiefsten Unklarheiten den Fremden auch offenbarten und zugäben, daß wir auf unseren Kern, unsere Kern- und Seinsfragen, auch keine Antworten wüssten: "Die vier Fragen in den Sprachen dieser Welt sind die anderen Menschen fremder Länder offenbarte Darstellung unseres kulturellen Versuches, uns selbst als Menschen zu verstehen." Wie verstehen wir selbst uns als Menschen? Ich habe versucht, mit einer künstlerischen Geste etwas in Gang zu setzen, von dem ich selbst nicht abschätzen konnte und kann, wo es sich hinbewegen wird. Meine Arbeit erfährt über die Resonanz, die Gedanken und Deutungen anderer Menschen eine Vertiefung, die nicht mein Verdienst ist.

 

 
Roland Kreuzer
Gelbe Plakate: Ab wann steht eines fürs Ganze?


© Kreuzer 2002


Über Kant und Kunst

Über Kant und Kunst
Beiträge zum weltfragen Symposion, hg. von Roland Kreuzer,
Berlin 2002, ISBN: 3-931012-15-8.
Mit Beiträgen von Sabine Collmer, Thomas Gil, Markus von Hagen, Roland Kreuzer, Ursula Panhans-Bühler, Ursula Rauch, Andrea Schwarzkopf, Barbara Straka, Georges Tamer. 48 Seiten, 42 Abb., 21 x 25 cm.  

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