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Richard C. Dean
Eine fünfte und noch grundlegendere Frage:
"Was werde ich tun?"
(Auszug)

Ich werde nicht direkt auf eine der vier Fragen eingehen, die im Zentrum des weltfragen-Projekts stehen. Stattdessen werde ich eine ganz andere Frage unter die Lupe nehmen. Diese Frage ähnelt der einen Frage: "Was soll ich
tun?", doch sie ist damit nicht identisch. Meine Frage lautet: "Was werde ich tun?"

Zunächst möchte ich kurz den Unterschied zwischen den zwei Fragen erläutern. Ich denke, mit der deutschen Frage "Was soll ich tun?" wird immer auch gefragt, was man verpflichtet ist zu tun oder was man für das Richtige hält. Vorausgesetzt, dass die englische Frage "What should I do?" eine richtige Übersetzung der deutschen Frage ist, dann hat auch die englische Version den Charakter einer moralischen Aufforderung. Die Frage jedoch, "What will I do?" bzw. "Was werde ich tun?" hat eben nicht solchen Charakter - ich frage mich damit einfach, was ich als nächstes tun werde. Vielleicht werde ich daraufhin eine Entscheidung treffen, welche in der Tat moralische Konsequenzen nach sich zieht. Aber vielleicht handelt es sich um eine Entscheidung, die gar keine moralische Bedeutung hat (zum Beispiel, wenn ich zwischen Vanille- und Schokoladeneis wähle). Ich will versuchen zu erklären, wie die nicht-moralische Frage "Was werde ich jetzt tun?" noch grundlegender für Kants Denken ist als die moralische Frage "Was soll ich tun?"

Die Frage "Was werde ich tun?" ist nicht deshalb grundlegend, weil die Frage eine bestimmte Antwort hat. Grundlegend ist sie deshalb, weil wir dieser Frage niemals aus dem Weg gehen können. Wir können nichts dafür - wir müssen sie stellen, und erst diese Notwendigkeit macht die Frage "Was soll ich tun?" überhaupt sinnvoll. Ich werde jetzt Schritt für Schritt zu erklären versuchen, wie Kant aus der Tatsache, dass wir die Frage "Was werde ich tun?" stellen müssen, den Schluss zieht, dass andere Fragen, welche eine moralische Bedeutung haben, beantwortet werden können.

Mit Schritt Nummer eins möchte ich aufzeigen, warum wir der Frage "Was werde ich tun?" nicht aus dem Weg gehen können. Ich fange mit einem Beispiel an. Nachdem das heutige Symposion zu Ende ist, werden Sie sich entscheiden müssen, was Sie als nächstes tun werden. Vielleicht stehen Sie zunächst von Ihrem Stuhl auf, ohne über die Frage nachzudenken, und Sie verlassen vielleicht auch den Saal, ohne darauf einen Gedanken zu verschwenden. Doch was machen Sie dann? Werden Sie sich einen Manouche bei Barbar holen, oder werden Sie sich dagegen entscheiden, weil gerade Fastenzeit ist? Werden Sie mit Ihrem Handy einen Bekannten anrufen? Werden Sie nach Hause gehen und eine Pause einlegen? Natürlich gibt es auch Grenzen zu Ihrer Handlungsfreiheit - niemand würde behaupten, dass Sie auf Wunsch einfach zum Mond fliegen könnten. Und vielleicht dauert es länger, bis Sie bewusst darüber nachdenken, was Sie als nächstes tun werden. (...) Es geht nicht darum, dass Sie in jedem Augenblick bewusst Entscheidungen treffen. Das tun Sie ja nicht. Doch irgendwann wird es darauf hinauslaufen, dass Sie ein paar Entscheidungen treffen werden. Sie kennen solche Momente, sie kommen ja jeden Tag meist mehrmals vor, und man kann ihnen nicht aus dem Weg gehen.

Vorausgesetzt, Sie wollten mir (bzw. Kant) zeigen, dass die These nicht stimmt. Nach meiner Rede bleiben Sie also einfach ruhig sitzen. Sie denken: "Nein, ich werde jetzt gar keine Entscheidungen treffen." Freilich heißt das, dass Sie auch in dem Fall in jedem Augenblick die Entscheidung treffen, ob Sie sitzen bleiben oder ob Sie lieber aufstehen. Die unvermeidbare Tatsache, dass Sie eine kontinuierliche Entscheidung treffen, sitzen zu bleiben, wird Ihnen spätestens dann klar, wenn Sie das Bedürfnis verspüren, zur Toilette zu müssen. Nach einigen Minuten wird Ihnen schmerzhaft bewusst, dass Sie Ihren Willen ins Spiel bringen müssen, um still sitzen zu bleiben, und wenn Sie schließlich aufgeben, werden Sie sich entscheiden, schnellstens zur Toilette zu rennen. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Es ist klar, dass auch dann, wenn wir etwas tun, was zur Routine gehört und von daher keiner bewussten Entscheidung bedarf, wir dennoch von anderen zu einer Entscheidung darüber gezwungen werden können. Indem uns jemand einfach fragt: "Willst du das wirklich so weitermachen?", werden wir darüber nachdenken müssen, was wir tun, und ob wir weitermachen wollen. Also kann kein normaler erwachsener Mensch die Frage, "Was werde ich jetzt tun?" endgültig vermeiden. Das wäre der erste Schritt der Kantschen Beweisführung, dass wir moralischen Prinzipien unterliegen.

Der Schritt Nummer zwei wäre zu zeigen, dass die unvermeidbare Aktivität des Entscheidens zu der Annahme führen muss, dass wir frei sind - dass unsere Entscheidungen freie Entscheidungen sind. Kant macht darauf aufmerksam, dass wir bei Entscheidungen über unsere zukünftigen Handlungen davon ausgehen, tatsächlich zwischen verschiedenen Handlungen wählen zu können. Wenn dies nicht der Fall wäre - das heißt, wenn es keine Wahl gäbe - dann wäre auch die Aktivität des Entscheidens nicht möglich. Anders gesagt, wir müssen davon ausgehen und uns darauf verlassen können, dass wir über die Macht der Freiheit verfügen, wenn wir im täglichen Leben Entscheidungen treffen wollen. Jede(r) von uns muss immer wieder diesen Glauben an die eigene Freiheit akzeptieren und anwenden. Eine Person, die nicht bereit wäre, diese Idee anzunehmen, wäre gelähmt und würde nie eine Entscheidung treffen können. Freilich ist eine solche nichtentscheidende Gelähmtheit eigentlich für keinen von uns möglich (es sei denn, jemand leidet durch eine psychische Störung an Katatonie). Es muss also der Fall sein, dass wir alle und jederzeit die Idee, dass wir frei sind, akzeptieren und danach handeln. Das stimmt auch für jene Menschen, die an die Theorie des Determinismus glauben. Determinismus ist der Glaube, dass niemand je etwas frei entscheiden kann, weil jedes Ding (auch menschliche Handlungen, Wünsche usw.) eine Ursache hat, und wir die Ursachen unserer Handlungen letztendlich nicht bestimmen können. Doch auch dann, wenn Sie theoretisch glauben, dass Sie nicht frei seien, können Sie nicht umhin, aus praktischen Gründen die Idee der Freiheit immer wieder bei Ihren Entscheidungen anzuwenden. Jede(r) von uns also akzeptiert die Idee der Freiheit, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen.

Kants Schritt Nummer drei ist die Schlussfolgerung, dass die Annahme der Idee der freien Wahl eine zweite Annahme nach sich zieht, dass nämlich der Mensch moralischen Prinzipien unterliegt. Nehmen wir an, Sie haben sich für etwas frei entschieden. Das heißt, dass etwas in Ihnen die letztendliche Entscheidung traf, ohne dass Sie durch externe Zwänge dazu veranlasst wurden. Ihre Entscheidung war nicht Folge der Ereignisse, die der Entscheidung vorausgingen, denn wenn Sie sich nicht hätten entscheiden müssen, wäre es ja keine Entscheidung gewesen. Ihre Entscheidung hing also letztendlich von Ihrem Willen ab. Das heißt, wenn Sie eine Entscheidung treffen, müssen Sie akzeptieren, dass nichts außer Ihrem Willen den Ausgang der Entscheidung bestimmt. Doch obwohl die Ursache Ihrer Handlung nicht in den ihr vorausgehenden Geschehnissen liegt, kommt Ihre Handlung dennoch nicht aus dem Nichts. Eine Handlung, die "einfach so" passiert, ohne irgendeinen Grund, kann man nicht als Handlung definieren. Es handelt sich dabei eher um ein willkürliches Ereignis, wie beim Münzewerfen. Das Ergebnis des Münzewerfens könnte man zwar als "frei" beschreiben, denn es gibt keine äußerlichen Einflüsse, die es bestimmen, doch handelt es sich dabei nicht um eine freie Entscheidung, denn es hat niemand eine Entscheidung treffen müssen. Damit wir etwas als Entscheidung einordnen können, muss es Gründe geben, warum wir uns für Handlung A statt für Handlung B entscheiden. Also gibt es nur noch eine Möglichkeit. Da eine Handlung nicht einfach entsteht, wenn Sie eine Entscheidung treffen, sondern immer aus einem Grund bzw. mehreren Gründen gewählt wird, muss der Grund dafür in Ihnen liegen. Der Grund muss ein Grund sein, welchen Sie sich selber geben. Ihr eigener Wille gibt Ihnen Gründe, A statt B zu wählen. Doch was für einen Grund könnte Ihr Wille von sich aus erfinden? Wie wir gesehen haben, kann der Grund nicht in dem Ablauf der Ereignisse liegen, welche Ihrer Handlung vorausgehen, denn sonst könnte Ihre Entscheidung nicht frei sein - der Ausgang wäre schon vorprogrammiert. Die Gründe, welche Ihr Wille Ihnen präsentiert, dürfen stattdessen die Form eines Gesetzes bzw. eines Prinzips besitzen, das weder von vorhergehenden Ereignissen noch von Ihren eigenen Wünschen abhängt. Nach Kant besteht genau darin die Eigenschaft eines moralischen Prinzips: Ein moralisches Prinzip ist ein Prinzip, das Ihr Wille Ihnen als absoluten Grund vorgibt, so und nicht anders zu handeln, unabhängig von externen Einflüssen sowie internen Wünschen.

Kants Beweisführung wäre damit abgeschlossen (allerdings soll das nicht heißen, dass jeder damit einverstanden sein muss, und es bleiben auch noch viele Fragen offen). Es ist unvermeidbar, dass wir an der Aktivität des Entscheidens teilnehmen und uns dabei für frei halten müssen. Jene Freiheit bedeutet, dass unsere Entscheidungen weder durch vorhergehende Ereignisse bestimmt werden, noch willkürlich sind. Die einzige Alternative wäre anzuerkennen, dass es sich bei unseren Entscheidungen um selbstauferlegte moralische Prinzipien handelt, welche uns Gründe vorgeben, warum wir bestimmte Dinge tun und andere lassen sollen. Wenn wir also dabei sind, eine Entscheidung zu treffen, müssen wir erkennen, dass wir moralischen Prinzipien unterliegen, welche uns wahrhaft wichtige Gründe geben, nach denen wir handeln sollen. Doch wird diese Erkenntnis erst dann relevant, wenn wir dabei sind, eine Entscheidung über unsere Handlungen zu treffen, also ist es nur die unvermeidbare Realität des Entscheiden-Müssens, welche uns zu der Annahme führt, dass moralische Prinzipien existieren. Freilich hat die moralische Frage "Was soll ich tun?" nur dann Sinn, wenn es moralische Prinzipien gibt. Es ist also die Tatsache, dass wir der Frage "Was werde ich tun?" nicht entkommen können, welche eine Antwort auf die Frage "Was soll ich tun?" erst ermöglicht.
(...)

 
Richard C. Dean
Eine fünfte und noch grundlegendere Frage: "Was werde ich tun?"
(Auszug)


© Dean 2006


weltfragen im libanon

weltfragen im libanon
hg. von Andrea Schwarzkopf & Roland Kreuzer
Berlin 2006
Mit Beiträgen von Sélim Abou, Henry Cremona, Richard C. Dean, Roland Kreuzer, Fitnat Messaiké, Angelika Neuwirth, Doumit Salameh, Ridwan al-Sayyid, Andrea Schwarzkopf, Georges Zeynati.
Deutsch, englisch und arabisch, 80 Seiten, 50 Abb., 21 x 25 cm, Schutzgebühr & Versandkosten: 10 €

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