text Sabine Collmer
Hinschauen und Nachdenken:
Zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaft
(Auszug)

 

Was hat Gesellschaft mit Kunst zu tun? 
 
Es war kein Geringerer als Theodor W. Adorno, der sagte, dass die Kunst aus der Gesellschaft komme, aber sich durch ihre Form der Gesellschaft widersetze. Nichts eignet sich besser dazu, als ein Kunstprojekt wie die weltfragen-Installation von Roland Kreuzer, um die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und in ihr produzierter Kunst aktuell in den Blick zu nehmen. Aus Sicht der Gesellschaftswissenschaft wird dieses Verhältnis in kunstsoziologischen Analysen erörtert. In Anlehnung an das Wörterbuch der Soziologie (Hillmann 1994:466f) lassen sich hierbei drei hauptsächliche Untersuchungsperspektiven unterscheiden.
a) Die Frage, wie und durch wen Kunst produziert wird: Hier wird gefragt nach dem Hintergrund und der gesellschaftlichen Verortung von Künstlerinnen und Künstlern, nach ihren ideellen und materiellen Lebensbedingungen.
b) Die Frage nach der Vermittlung von Kunst: Hier geht es darum zu klären, durch welche Verfahren und Wege Kunst distribuiert wird und nach den Institutionen, wie Museen und Kunsthandel, durch die Kunst in Teilbereiche der Gesellschaft vermittelt wird.
c) Die Fragestellung der kunstsoziologischen Rezeptionsforschung: nämlich, wie Einzelne und Gruppen Kunstwerke auswählen, und sich materiell sowie ideell aneignen. Wie sie gemäß ihrem Bildungsniveau, ihrem Berufsprofil, ihren Freizeitinteressen mit dem semantischen Gehalt von Kunstwerken in ihrer je eigenen Lebens- und Alltagswelt umgehen.

Offensichtlich stellt gerade diese dritte Untersuchungsrichtung der Rezeptionsforschung ein Fundament parat, auf dem aufbauend über das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft räsoniert werden kann. Um mich nun schrittweise dieser Frage zu nähern, werde ich zunächst einen Ausflug in die theoretischen Höhen Adorno´scher Begriffsbildung wagen. Neugierde und Forschungsethos einer empirisch arbeitenden Sozialwissenschaftlerin gebieten es, so dann einen Blick zu werfen auf die empirischen Evidenz, also der Frage nach zu gehen, wie die weltfragen-Installationen beim Publikum tatsächlich ankommen. Schließlich gehe ich darauf ein, was die Lifestyle- und Milieuforschung zum Verständnis der divergierenden Sichtweisen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zur künstlerischen Ästhetik beitragen kann.

 
(...)  

Eine implizit wahrgenommene Mahnung der Kritischen Theorie Adornos, die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse der Menschen bei der Interpretation ihres Kunstzugangs zu beachten, führte uns dazu, ihre Lebenswelten, ihre Milieus und Alltagserfahrungen näher in den Blick zu nehmen. Der Schulze´sche Ansatz alltagsästhetischer Schemata hebt fünf Milieus voneinander ab, die sich in ihrem Verhältnis zu Kunst und Kitsch signifikant unterscheiden. Wenn wir abschließend die fünf Milieus noch einmal Revue passieren lassen, dann wird deutlich: Kunst und Kunstprodukte kommen typischerweise in den Erlebnispräferenzen von drei Milieus vor: explizit im Selbstverwirklichungsmilieu, die Kunst sozusagen mit großer Offenheit und "wachsender Begeisterung" rezipiert und im Niveaumilieu, dort aber tendenziell in instrumentalisierter Form, wo Kunst zur eigenen Selbstinszenierung benutzt wird. Und dann noch in sehr geringem Ausmaß in Teilen des Integrationsmilieus, und zwar in der Untergruppe, die eine Tendenz zur Hochkulturszene hat.

So gesehen engt das die Gruppe derjenigen, die sich auf ein Kunstprojekt wie das weltfragen-Projekt positiv und affirmativ beziehen, ganz erheblich ein. Und einige der negativen Bewertungen und ablehnenden Haltungen werden jetzt verständlich, da wir sie im Harmonie-, Integrations- oder Unterhaltungsmilieu vermuten können. Insofern läßt sich die Aussage Adornos´, daß Kunst zwar aus der Gesellschaft entstehe, aber sich ihr in ihrer Form entgegensetze, hier darauf hin erweitern, daß es offensichtlich soziale Milieus gibt, die sich in ihren Erlebnispräferenzen der Kunst entgegensetzen.


 
Literaturliste

Theodor W. Adorno.: Einleitung in die Musiksoziologie, in: Gesammelte Schriften 14, hrsg. von R. Tiedemann. 1.Aufl. 1973, Frankfurt/Main. S. 169-447.

Peter Bürger: Das Vermittlungsproblem in der Kunstsoziologie Adornos, München, 1980.

Karl-Heinz Hillmann: Stichwort "Kunstsoziologie", in: Ders.: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, 1994, S. 466-467.

Byeong-Ho Mun: Intentionslose Parteinahme. Zum Verhältnis der Kunst und Literatur zur Gesellschaft bei Theodor W. Adorno, Frankfurt/Main, 1992

Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/Main & New York. (8. Auflage, erstmals 1992), Studienausgabe.

Gerhard Schulze: Entgrenzung und Innenorientierung. Eine Einführung in die Theorie der Erlebnisgesellschaft, in: Gegenwartskunde 4/1993, S. 405-419.


 
Sabine Collmer
Hinschauen und Nachdenken:
Zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaft
(Auszug)


© Collmer 2002


Über Kant und Kunst

Über Kant und Kunst
Beiträge zum weltfragen Symposion, hg. von Roland Kreuzer,
Berlin 2002, ISBN: 3-931012-15-8.
Mit Beiträgen von Sabine Collmer, Thomas Gil, Markus von Hagen, Roland Kreuzer, Ursula Panhans-Bühler, Ursula Rauch, Andrea Schwarzkopf, Barbara Straka, Georges Tamer. 48 Seiten, 42 Abb., 21 x 25 cm.

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